Diversität
ist in der Medizin ein relativ neuer Begriff, allerdings war er inhaltlich immer vorhanden. Es steht außer Streit, dass sich Menschen unterscheiden. So basiert schon die Frauengesundheitsbewegung des letzten Jahrhunderts auf dem völlig unbestrittenen Faktum, dass Frauen und Männer unterschiedlich sind – nicht nur was ihre sekundären Geschlechtsmerkmale betrifft, sondern weit darüber hinaus – und sie deshalb auch unterschiedliche medizinische Angebote zu vielen Fragestellungen wollen und brauchen. Dies war vereinfacht die Forderung der Frauengesundheitsbewegung, aber es gab ein gravierendes Problem: die Modellfrau/Normfrau gibt es nicht. Frauen unterscheiden sich in sehr vielen Faktoren. Auch das war immer unbestritten. Alter, soziale Situation, Kultur, Religion, Ethnie und vieles mehr beeinflussen die Ansprüche an das Gesundheitssystem; z.B. ist seit Jahrzehnten das Angebot 1 x 1 Tablette von 40-140 kg, von 18-98 Jahren (wenn wir die Kinder- und Jugendheilkunde einmal ausklammern) nicht überzeugend und muss selbstverständlich an die jeweilige Person angepasst werden. Da sind wir schon wieder bei der Diversität der Menschen und in der Folge der medizinischen Angebote.
In Gender Medizin werden Frauen und Männer vergleichend erforscht, um den Vorteil des einen Geschlechts auch für das andere anwenden zu können. Krankheiten treten sehr häufig prozentmäßig unterschiedlich auf, Symptome und die Treffsicherheit von Diagnose- und Therapieverfahren unterscheiden sich. Dabei zeigte sich aber auch wieder, dass es nicht nur die Normfrau nicht gibt, sondern auch nicht den Normmann. In der Folge mussten weitere Untergruppen gebildet werden, die in den letzten Jahren unter Diversität zusammengefasst wurden und jetzt auch so bezeichnet werden.
Die Hauptgruppen von Diversität in der Medizin sind üblicherweise:
• Geschlecht
• Alter
• sexuelle Orientierung
• religiöse Orientierung
• Kultur
• soziale Situation
• Ethnie
• Migration/Flucht
• chronische Erkrankungen
• Behinderung
Aber bald mussten wir entdecken, dass auch innerhalb all dieser Gruppen wieder weitere Unterscheidungen notwendig sind und auch Interaktionen zwischen den Gruppen stattfinden, hier sprechen wir dann von Intersektionalität.
Ein Paradigma der Schulmedizin ist, dass alle unsere Angebote evidenzbasiert sein müssen, d.h. alle unsere Angebote beruhen neben medizinischer Erfahrung und Wunsch der Patient*innen hauptsächlich auf wissenschaftlichen Untersuchungen. Der Goldstandard sind dabei Multicenter-Doppelblindstudien. Das Konzept der evidenzbasierten Medizin ist unbestritten, allerdings ergibt sich im Zusammenhang mit Diversität ein großes Problem. Gibt es entsprechende wissenschaftliche Untersuchungen zu all diesen Gruppen? Eine der Hauptforderungen der Frauengesundheitsbewegung war, auch für Frauen an Frauen geprüfte Medikamente anzubieten. Bis dahin waren die meisten Medikamente nur oder hauptsächlich an Männern getestet und wenn Frauenanteile bei der Studienpopulation dabei waren, wurden die erhobenen Daten einfach mit den Männerdaten zusammengemischt. Das gab dann schlussendlich einen großen Aufschrei auch der Bevölkerung und die Folge waren gesetzliche Regelungen zur Testung an und für Frauen. In den letzten Jahrzehnten wurden zahlreiche Studien nicht nur zu Medikamentenwirkungen und nebenwirkungen, sondern zu den meisten Fragestellungen der klinischen Medizin durchgeführt. Wir wissen inzwischen sehr viel, aber nicht genug und es dauert auch aus unserer Sicht zu lange, bis alle diese Erkenntnisse bei der einzelnen Frau ankommen. Aber wie schaut es mit den anderen Diversitäts-Gruppen aus?
Hier mangelt es weitgehend an gesetzlichen Regelungen und darüber hinaus ist die Medizinforschung hauptsächlich auf große Gruppen ausgerichtet. Es ist natürlich leicht Frauen und Männer zu vergleichen, dies sind die beiden größten Gruppen unserer Patient*innen und sie sind auch leicht zu identifizieren, außerdem ist in allen Krankengeschichten das Geschlecht bzw. der Vorname registriert. Nicht wesentlich schlechter ist die Voraussetzung was Alter betrifft und außerdem hat die Geriatrie seit Jahrzehnten Forschung betrieben. Das Alter ist ebenso in Krankengeschichten vermerkt.
Alle weiteren oben angeführten Gruppen sind in geringerer Zahl vorhanden und ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist in den Krankengeschichten nicht vermerkt. D.h. eine retrospektive Auswertung der Daten ist nicht möglich und bei einer prospektiven Studie müssen alle einzelnen Patient*innen befragt werden. Neben der geringen Fallzahl einzelner Gruppen kommt es hier auch zu tabuisierten Gebieten, was die Befragung nochmals erschwert, sodass hier trotz echtem Willen aller in unserem Gesundheitssystem tätigen Personen, bestmögliche, also auch evidenzbasierte Angebote für jede einzelne Person zu machen nicht in allen Fällen möglich ist.
Allen Diversitäts-Gruppen bezüglich evidenzbasierter Medizinangebote gerecht zu werden braucht nicht nur eine massive Ausweitung der Forschung auf diese Gebiete, was aber jedenfalls Geld und Zeit erfordert und auch teilweise neue Forschungsansätze, sondern die Erkenntnisse müssen natürlich auch in die Lehre und Fortbildung aller Gesundheitsberufe inkludiert werden. Z.B. war unser letztes Thema der Gender Medizin Ringvorlesung Migrationsmedizin durch zwei Semester mit einem Schwerpunkt auf Flüchtlingen. Dieses Thema illustriert unser Problem besonders anschaulich, wenn wir uns die Mittelmeerroute Afrika-Brenner vor Augen führen: Welche Daten/Untersuchungen gibt es tatsächlich zu diversen afrikanischen Ländern? Welche Kenntnisse haben wir davon? Was lehren wir zu diesem Thema? Und was bieten wir dann in der Folge in unserer Notfallaufnahme an? Ähnliche Beispiele gäbe es zu praktisch allen Diversitäts-Gruppen. Es bleibt also noch viel zu tun!
Aktuell muss uns allen klar sein, dass die Zeiten des „Einheitsbreis“ im medizinischen Angebot vorbei sind, dass Menschen unterschiedlich sind und deshalb unterschiedliche Angebote in Prävention, Diagnose, Therapie und Rehabilitation brauchen und wir diese auf Basis solider Untersuchungen erarbeiten müssen!