Die Gender Medizin ist eine junge Wissenschaft und Querschnittmaterie.
Entwicklung
Geschlechtsunterschiede bei Diagnose und Therapie von koronaren Herzerkrankungen und bei Herzinfarkt waren neben Medikamententestungen auch für Frauen das erste Thema in der Women’s Health- und Gender Medizin Forschung. Seit den 1990er Jahren gibt es unzählige wissenschaftliche Artikel zu diesem Thema, ist doch der Herztod die Haupttodesursache für Frauen und Männer weltweit. Eine der wichtigsten Publikationen aus der Anfangszeit der Gender Medizin Forschung ist das 1991 im New England Journal of Medicine, der damals wie heute höchstgerankten wissenschaftlichen Medizinzeitschrift, erschienene Editorial „Das Yentl Syndrome“ von Bernadine Healy. „Frau muss erst beweisen so herzkrank zu sein wie ein Mann, um dieselbe Behandlung zu erhalten“: Frauen haben geringere Chancen auf Spitzenmedizin, wie bei Herzkatheter, Intensivstation, Bypassoperation, Klappenoperation, Herztransplantation. Frauen brauchen außerdem länger, um zu dieser Diagnostik und Therapie zu gelangen. Diese Befunde wurden trendmäßig in allen Studien bestätigt. Es stellte sich die Frage nach den Ursachen. Diese sind sicher multifaktorell, der Hauptgrund ist zweifelsfrei, dass koronare Herzerkrankung, Herzinfarkt Männern zugeschrieben wurde und deshalb Diagnostik und Therapie auf Männer fokussiert war.
Für uns stellt sich natürlich die Frage: Yentl Syndrome – 25 Jahre danach. Und hier ist viel geschehen. Es gab nicht nur zahllose wissenschaftliche Studien zu diesem Thema, sondern auch Awarenessaktionen, wie „Go Red“ und viele ähnliche Aktionen und sehr viel Information und Unterstützung durch die Medien. Daneben gab es natürlich auch Erklärungsversuche, wie die „atypischen Herzsymptome von Frauen“ oder das höhere Alter bzw. die höheren Komorbiditäten von Frauen. Zusammenfassend zeigen die wissenschaftlichen Studien bis heute einen Geschlechtsunterschied im Zugang zur Herzdiagnostik und –therapie zu Ungunsten der Frauen, wenn auch in geringerem Maß.
Neben diesen Geschlechtsunterschieden in der Kardiologie, die hauptsächlich Zugangsprobleme von Frauen behandeln, stellt sich zwischenzeitlich hauptsächlich die Frage: gibt es Geschlechtsunterschiede bei der koronaren Herzerkrankung, beim Herzinfarkt zwischen Frauen und Männern und was wissen wir darüber wirklich? Und weiter: berücksichtigen wir dieses Wissen in der Diagnostik und Therapie? Es stellt sich primär die Frage: handelt es sich um dieselbe Krankheit bei Frauen und Männern? Und hier sind Unterschiede in einigen Punkten klar bewiesen. Z.B. ist das klassische Bild der koronaren Herzkrankheit, d.h. der Verkalkung der großen Herzkranzgefäße, für Männer in wesentlich höherem Maß zutreffend als für Frauen. Bei Frauen sind häufig eher die Mikrogefäße befallen. Außerdem treten eher Spasmen der Koronargefäße auf. Allein dieses Faktum des unterschiedlichen Verkalkungsmusters der Koronargefäße führt in der Diagnose zu großen Geschlechtsunterschieden bezüglich Aussagekraft für Frauen und Männer. Es wurde durch Jahrzehnte als beste Screeningmethode bei Verdacht auf koronare Herzkrankheit eine Ergometrie durchgeführt und im Falle von klar definierten EKG-Veränderungen eine Herzkatheteruntersuchung empfohlen. Dies war und ist für Männer nach wie vor erste Wahl, aber nicht für die Frauen. Bei der Ergometrie, werden bei zahllosen falsch positiven Ergebnissen Herzkatheteruntersuchungen empfohlen, die häufig nicht die erwarteten höhergradigen Verkalkungen der großen Herzkranzgefäße darstellten. Daraus ergibt sich das Problem, dass deutlich weniger Ergometrien bei Frauen gemacht wurden und werden und trotz dieser Einschränkung nach wie vor zahlreiche blande Herzkatheterbefunde in der Folge auftreten. Allerdings schützen diese Ergebnisse die Frauen nicht vor Herzinfarkt, ebensowenig wie die falsch negativen Ergebnisse. Hier bieten sich wohl getrennte Screeningmethoden für Frauen und Männer an, nämlich für Frauen SPECT-Methoden oder Stress-Echokardiographie. Relativ beliebt ist zwischenzeitlich auch der Koronar-CT, der allerdings bei jungen Frauen wegen der hohen Strahlenbelastung vermieden werden sollte.
Diese Geschlechtsunterschiede bei koronarer Herzerkrankung und Herzinfarkt sollten in die Richtlinien fix verankert sein. Dazu sind getrennte Guidelines für Diagnose und Therapie von Herzerkrankungen für Frauen und Männer unverzichtbar. Hier ist noch ein großer Nachholbedarf. Es gibt nur ganz vereinzelte geschlechtsspezifische Guidelines, wie von der Amerikanischen Herzgesellschaft AHA zum Thema Prävention von koronarer Herzerkrankung für Frauen und die Guidelines für Schwangere der Europäischen Herzgesellschaft ESC. Ich halte es für unverzichtbar, dass in alle Guidelines zu Herzerkrankungen die Geschlechtsunterschiede zwischen Frauen und Männern entsprechend betont und mit darauf fokussierten Empfehlungen behandelt werden.
Prävention
Herztod ist die Haupttodesursache für Frauen und Männer. Üblicherweise sind Frauen mehr für Prävention zu motivieren als Männer. Bei koronaren Herzerkrankungen, Herzinfarktprävention ist dies nicht so deutlich ablesbar, weil Herzinfarkt und Herztod nach wie vor männlich besetzt sind. Hier muss noch sehr viel Awarenessarbeit bezüglich Frauen und ihrem Herzrisiko geleistet werden.
Die Hauptrisikofaktoren für Herzinfarkt, koronare Herzkrankheit sind für Frauen und Männer dieselben, nämlich Hochdruck, Diabetes, Dislipidämie, Rauchen, Stress, Bauchfett, Bewegungsmangel und Alkoholismus. Wissenschaftlich sind zu all diesen Punkten durchaus Geschlechtsunterschiede feststellbar, wie dass Diabetes das Herzrisiko für Frauen wesentlich mehr erhöht als für Männer, dass Rauchen zumindest für junge Frauen ein höheres Risiko darstellt und auch der Rauchstopp für Frauen schwieriger ist, und vieles andere mehr. Mit psychischer Belastung und Stress als anerkanntem Risikofaktor spielt sicher auch eine Rolle, dass Depressionen bei Frauen etwa doppelt so häufig als bei Männern auftreten und dass Frauen mehr von Mehrfachbelastungen, Familie, Kindererziehung, Pflege alter Familienmitglieder und Beruf betroffen sind. Allerdings haben diese Unterschiede keinen Einfluss auf die Präventionsempfehlungen, sodass hier keine Geschlechtsunterschiede im Wesentlichen gemacht werden müssen.
Geschlechtsunterschiede bei koronarer Herzkrankheit, Herzinfarkt
Dass Hormone eine Rolle spielen, wissen wir aus zahllosen Publikationen. So gibt es in der Schwangerschaft Auftreten von Kardiomyopathien, hat sich gezeigt, dass die Östrogene eine günstige Wirkung auf koronare Herzerkrankungen haben können. Die Östrogene sind wohl eine der Hauptursachen für das spätere Auftreten der koronaren Herzerkrankung, Herzinfarkte bei Frauen. Viele Studien zeigen auch, dass Schwankungen, Änderungen des Sexhormonstatus das Herzrisiko erhöhen. Dies trifft für Schwangerschaften, Wechsel, Hormonbehandlungen zu.
Medikamente
Sowohl in der Prävention wie in der Diagnostik und vor allem Therapie koronarer Herzerkrankung und Herzinfarkt spielen Medikamente eine wesentliche Rolle. Neben Herzerkrankungen waren die nicht getesteten Geschlechtsunterschiede von Wirkung und Nebenwirkung von Medikamenten ein führendes frühes Gender Medizin Thema. Auch hier entstand eine Diskussion mit Herzmedikamenten, und zwar mit der Physicians‘ Study zu Aspirin, eine Studie, bei der Frauen prinzipiell von der Studienteilnahme ausgeschlossen waren. Das für Männer als hilfreich getestete Aspirin wurde auch an Frauen ungetestet verkauft. Hier gab es eine lange Diskussion, die mit dem derzeitigen Stand endete, dass Aspirin für Frauen unter 65 als Prävention nicht empfohlen wird. Diese klaren Empfehlungen fehlen bei den meisten anderen in der Kardiologie verwendeten Medikamenten mit dem Erfolg, dass durch Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen viele Frauen demotiviert werden, ihre verschriebenen Medikamente zu nehmen.
So haben auch die Rückrufaktionen der amerikanischen Zulassungsbehörde, die meist auf nicht rechtzeitig erkannte Komplikationen bei Frauen zurückzuführen sind, gezeigt, dass auf dem Gebiet noch Wünsche offen sind. Ein weiterer Punkt ist, dass bei der klinischen Testung die getrennte Testung an Frauen und Männern und die getrennte Auswertung vorgeschrieben ist, allerdings nicht in der Grundlagenforschung, wo die Medikamentenentwicklung beginnt. Dies ist wohl der nächste Schritt, dass die Medikamentenentwicklung von der Grundlagenforschung an auf Geschlechtsunterschiede untersuchen sollte, d.h. mit weiblichen und männlichen Mäusen.
Zusammenfassend hat die jahrzehntelange gendermedizinische Forschung auf dem Gebiet der koronaren Herzkrankheit, Herzinfarkt viele Geschlechtsunterschiede aufgezeigt. Anfangs waren die Studien auf Zugangsunterschiede zur Diagnostik und Therapie fokussiert, dieselben Angebote für Frauen und Männer wurden gefordert. Zwischenzeitlich ist der Forschungsschwerpunkt auf die Unterschiede in der koronaren Herzkrankheit bei Frauen und Männern ausgerichtet und aufgrund der Ergebnisse kann nicht mehr dasselbe Angebot, sondern das bestmögliche für jedes Geschlecht gefordert werden. Hier sind Richtlinien gefragt. Eine Hilfe stellt das im Auftrag der EU erstellte Fact Sheet aus dem GENCAD-Projekt dar, das im Herbst veröffentlicht werden soll und die besonderen Bedürfnisse von Frauen in der Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation von koronaren Herzkrankheiten, Herzinfarkt aufgrund von wissenschaftlichen Ergebnissen, also evidence based, darstellt. Damit haben wir wieder einen Schritt in Richtung maßgeschneiderter medizinischer Angebot für Frauen und Männer, also individualisierte Medizin getan.
Forschungsgebiete, Forschungsmöglichkeiten
Gender Medizin
Migrationsmedizin
Women’s Health/Men’s Health
Sexualität
Gewalt
Diskriminierung und Machtkonstruktionen
Diplomarbeits- und Dissertationsthemen
Bei Interesse an einer Diplomarbeit oder Dissertation im Bereich der Gender Medizin nehmen Sie bitte mit uns Kontakt auf.
wissenschaftliche Publikationen
Publikationen der Gender Medicine Unit
Publikationen zu sex und gender differences